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Die Geschichte des Velocipeds


Angeregt durch das liebenswürdige Gedicht aus Elberfeld in No. 4 des "Velociped" will ich heute einige nothwendige Aufklärungen in der für uns Radreiter wichtigen und interessanten Sache geben.
Wenn wir nicht auf die Versuche, sich auf drei und vier Rädern fortzubewegen, eingehen, sondern lediglich das zweirädrige Vehikel im Auge behalten, aus welchen unsere heutige vollendete Maschine entstanden ist, so haben wir einzig und allein den Freiherrn v. Drais als den Vater unseres Velocipedes und den Franzosen Pierre Lallement als den Umgestalter desselben zu verehren. Die Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland bekannt gewordene sogenannte Draisine, (Drais`s erste Idee), hatte kein lenkbares Vorderrad; erst seine zweite Arbeit, welche er sich 1817 in Frankreich patentieren liess, hatte ein Lenkrad.

Die verbesserte Draisine nun hat in Mannheim das Licht der Welt erblickt und machte von da die Reise durch ganz Europa und Amerika. In demselben Jahre noch liess ein gewisser Dennis Johnson dieselbe Construction in England patentieren. Nachdem die Draisine in dem darauf folgenden Jahre in England, Amerika und Frankreich verschiedene unbrauchbare Veränderungen erfahren hatte, wurde sie in diesen Ländern wieder bei Seite gelegt, behauptete sich aber in Deutschland bis Ende der 30. Jahre und darüber, bis sie auch hier in die Rumpelkammer ging und nur einige wenige Turnvereine sich ihrer noch als komisches Geräth bedienten. Die Mehrzahl dieser Instrumente aber schlief, wenn ihnen überhaupt kein schlimmeres Loos zu Theil wurde, den Schlaf der Vergessenheit auf selten betretenen Bodenräumen und träumte der Zeit, da die Raben nicht mehr um den Berg fliegen.
Der M.V.C. ( Münchener Velociped-Club) hat das Glück, eine Draisine und ein diesbezügliches Bild, auf welchem die Sache von ihrer schwächsten Seite dargestellt ist, (das Bild stellt eine Anzahl Sportsmen der dortigen Zeit dar, wie sie im Begriff sind, einen Berg zu erklimmen), im Original sein Eigen nennen zu können.
Eigenthümlicher Weise benamsen die unteren Volksschichten in Bayern noch heut zu Tage unser Fuhrwerk "Draisine".


(Damenwettfahren auf Velocipeden nach Michauxer Bauart)
Und nun wieder zurück zu unseren Sports-Ahnen.
Das Jahr 1864 kam und mit ihm ein Wendepunkt in der Geschichte der Draisine. M. Michaux in Paris fabricierte seit längerer Zeit dreirädrige Draisinen und zwar auch solche mit Reitsitz und Kurbelbewegung nach Art unserer heutigen Kinder-Velocipeden. Bei Michaux war nun auch ein Mechaniker mit Namen Pierre Lallement, ein sehr geschickter und denkender Arbeiter, und dieser kam auf die Idee, das an den dreirädrigen Draisinen angebrachte System des Antriebs mittelst Kurbeln auch bei den vergessenen zweirädrigen Draisinen anzuwenden. Er baute eine solche Maschine, lernte das Fahren auf derselben und war in Folge dessen der erste Velocipedist nach heutigen Begriffen.
Michaux liess nun sofort mehrere solche Maschinen bauen, stellte im Jahre darauf, 1865, eine solche auf der Pariser Ausstellung zur Schau und nannte sie Velociped. Von Seite der Franzosen wurde die neue Erfindung mit einer wahren Begeisterung aufgenommen, die sich aber bald sämmtlichen civilisirten Ländern mitteilte.

In Jahr 1866 treffen wir Lallement arbeitsuchend in Amerika. In Newhaven nun scheint er solche gefunden zu haben, und er baute sich sofort auch wieder ein Velociped. Hier machte er auch die Bekanntschaft eines Mr. Carrol, welcher wahrscheinlich das nöthige Geld hatte, denn sie liessen die Erfindung patentieren und machten Geschäfte damit. Doch das folgende Jahr ging Lallement schon wieder zurück nach Frankreich und etablirte sich auf eigene Faust. Leider war es mir bis jetzt nicht möglich, von den -wie es scheint- nur der Gegenwart lebenden französischen Sportcollegen etwas über sein ferneres Wirken und Leben, über seinen jetzigen Aufenthalt oder- seinen Tod zu erfahren; weiss man doch in leitenden französischen Sportkreisen nicht einmal, was aus Michaux geworden ist. Was nun die constructive Weiterentwicklung des Velocipeds betrifft, so ging diese seit dem Jahre 1868 beinahe beinahe ausschliesslich aus den Händen Englands hervor, das sich denn auch die Freiheit nahm, die nicht besonders glücklich gewählte französische Bezeichnung "Vélocipédé" in das noch unglücklichere lateinisch-griechische "Bicycle" umzuwandeln, was wiederum das englische Patentamt nicht abhält, sich des älteren Namens "Vélocipéd" zu bedienen.
Das Jahr 1868 brachte Folgendes: Ein Mr. Bradford kam auf die Idee, die Holzräder mit Kautschuk zu versehen, während Louis Riviere, ein in England lebender Franzose, sich daran machte, den Durchmesser des Hinterrades und die daraus resultirenden Nachteile zu verringern, und ein gewisser Edward Cowper das zuerst von S. Maddison erdachte Rad mit Drahtspeichen baute, welches dann später James Starley in seinem "Ariel" beinahe bis zur Vollkommenheit verbesserte. Wahrscheinlich war letzterer auch derjenige, welcher zuerst den Rücken aus einem Rohre machte. Das verflossene Decenninum brachte uns dann durch Starley die Körnerleitung und ferner die bei stabilen Maschinen allerdings schon länger bekannten Kugellager. Natürlicher Weise wurde man auch nicht müde, am System selbst zu rütteln, doch sind diejenigen Veränderungen, welche sich als brauchbar erwiesen, nicht von wesentlichem Einfluss auf die allgemeine Form des Velocipedes gewesen. Eine Ausnahme hiervon macht nur das "Otto-Bicycle", das zwei grosse Räder neben einander, sich einer ziemlichen Beliebtheit in London erfreut, und das amerikanische "Star-Bicycle". Letzteres hat das kleine Rad vorn, während der Sitz sich ebenfalls auf dem grossen Rade befindet. Ich habe längere Zeit schon nichts mehr davon gehört und glaube auch, dass diese Idee nicht ernsthaft zu nehmen ist.
An dieser Stelle muss ich aber auch bedauern, dass die bereits -und zwar in derselben Form- seit 13 Jahren bekannt, unbrauchbare Idee des sog. Monocycle auch den Weg aus der für alles Mögliche und Unmögliche zugänglichen Leipziger Illustrierten Zeitung in unser Sport-Blatt gefunden hat. Erwähnenswerther dagegen ist das Monocycle des Italieners Sign. Scuri, welchen ich auf der Rennbahn des Alexandra-Palace bei London fahren sah, und der sich momentan in Paris producirt. Auf einer ganz gewöhnlichen 1,10 Maschine älterer Ordnung , mit einem hinter der Feder abgenommenen Rücken - also ohne Hinterrad - fährt er mit der grössten Sicherheit sogar ohne Zuhülfenahme der Hände.
Nun wollen wir uns wieder nach unserem Vater Drais umsehen.
Als v. Drais sein unlenkbares Fahrzeug in ein lenkbares umwandelte, ging er jedenfalls nur von dem Gedanken aus, beim Wenden seines Fahrzeuges dasselbe nicht immer herumheben zu müssen, sonder mittelst einer Drehung des Vorderrades den Lauf der Maschine bliebig bestimmen zu können, und muss es den verehrten Mann jedenfalls höchlich überrascht haben, als er eines Tages die Erfahrung machte, dass er mittelst dieses lenkbaren Vorderrades das rotirende Fahrzeug ohne Zuhülfenahme der Füsse in der Balance halten konnte. Und darin liegt der Kern der Sache, darin liegt der Fingerzeig, wen wir als Vater unseres Velocipedes zu betrachten haben. Denn - besteht die Kunst des Velocipedfahrens in etwas Anderm als im Halten des Gleichgewichts durch das drehbare Vorderrad und ist unseren heutigen Maschinen der Stempel der "Draisine" durch die hintereinander liegenden Räder nicht deutlich genug aufgedrückt? Die Verlegung aber des Antriebs vom Boden nach der Achse des vorderen Rades, welches Verdienst Lallement hat, war lediglich eine Verbesserung, wenn auch eine wesentliche. Darum, wer keine Lust hat, seine Maschine "Velociped" oder "Bicycle" zu nennen, begeht keinen Missbegriff, wenn er sie "Draisine" tauft.


( Freiherr Carl v. Drais )
Und nun einiges über Drais´ Leben. Freiherr Carl v. Drais wurde im Jahre 1785
am 28. April in Carlsruhe als der Sohn des nachmaligen grossh. bad. Oberhofrichters
C.W.F. Ludw. Feiherr v. Drais und dessen Gattin Friederike, geb. v. Rotenberg aus Giessen, geboren und starb am 10. December 1851 Abends 5 Uhr, während er am
12. December Nachmittags beerdigt wurde. Er erreichte sonach ein Alter von
66 Jahren 7 und 12 Tagen. Steinmann giebt in seiner Broschüre als Geburtsort Drais´ Ansbach und als Geburtsjahr 1755 an. Dies ist aber vollkommen unrichtig, denn der in Ansbach um diese Zeit lebende Hauptmann und Kammerjunker Samuel Friedrich Gottlob Freiherr v Drais war ein Bruder des Vaters unseres Carl v. Drais. Dem Ansbacher Drais schenkte seine Frau Catharina Elisabeth, geb. v. Beck, allerdings laut Geburtsmatrikel von St. Johannis in Ansbach auch einen Sohn, welcher aber nicht 1755, sondern am 22.Mai 1758 zur Welt kam, und auch nicht Carl, sondern Friedrich Heinrich Georg getauft wurde. Ein jüngerer Zeitgenosse v. Drais´, Herr Stadtrat W. Langeloth in Mannheim, der über Nekrograph des unglücklichen Carl Ludwig Sand, ist in dieser Sache mein Gewährsmann und ihm verdanke ich auch die genauen Daten über Carl v Drais. Ich fühle mich daher verpflichtet, diesem wackeren Sportkollegen - ich darf ihn ja so nennen - für die grosse Mühewaltung öffentlich und im Namen der deutschen Velocipedisten meinen verbindlichsten Dank zu sagen.

Er schrieb mir Folgendes:
"Ich wie meine Schulgenossen erhielten - zum Schrecken der Eltern - v. Drais Unterricht; denn, da die Draisine mit den Füssen auf dem Erdboden in Bewegung gesetzt wurde, waren bald die Ledersohlen durchlaufen, und gab es häufig als Belohnung hierfür von "Denen", die auch heute nichts kosten!
Hunderte von Anekdoten kursiren noch heute bei den Alt-Manheimern über v. Drais, denn sein grüner Frack mit Goldlitzen - er war Forstmeister -, seine weisse Hose, seine 2 kleinen Knöpfe auf den Schössen des Fracks, das Abzeichen der Kammerherrnwürde, sein hoher Cylinder und sein auf´s Feinste polirtes Stahlspazierstöcklein sind uns Allen noch eingeprägt."
Es ist dies eine lebendige und reitzende Skizze unseres Vater Drais, der aber auch, einer Bemerkung meines Gewährsmannes zufolge, unter den Mannheimer als Sonderling gegolten hat, was um so weniger Wunder nehmen darf, als es ja heut zu Tage noch Leute giebt, die uns unbegreiflich finden und unseren Sport für die Ausgeburt des Uebermuthes halten.

Und nun zum Schluss.

Der Zweck dieser Zeilen soll nicht nur der sein, einige Aufklärungen über die Väter und die Jugendzeit des Velocipedes gegeben zu haben, sondern auch, und zwar hauptsächlich sollen sie eine Aufforderung sein, die beiden uns theuren Männer nach ihren Verdiensten in Ehre zu halten. Es wäre eine grosse Undankbarkeit, wollten wir sie, deren Erfindung uns so vieles Vergnügen verschafft, noch länger der Vergessenheit überlassen.
Ich habe mich deshalb auf die Suche begeben, um von Drais und Lallement Portraits zu erhalten, nach welchen sich copiren lässt, und ich gebe mich der angenehmen Hoffnung hin, es möge die Zeit nicht mehr fern sein, da, ebenso wie die Bilder Jahn´s und auch Arndt´s die Turnhallen zieren, die Büste Drais´ und Lallement´s die Wände unserer Clubräume schmücken.

 

December 1881

Heinrich Martin Heimerl
( Münchener Velociped-Club)



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Quelle:
Originaltext aus: " Das Velociped" No.6. vom 1. Januar 1882 und No. 7 vom 1. Februar 1882. I. Jahrgang.
Bildnachweis:
Brockhaus` Conversations-Lexikon.
Zeichnung aus dem Jahr 1869. Abgebildet im Merkbuch Fichtel & Sachs AG, Schweinfurt -M, 1941.