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Das Brennabor - Fahrrad

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Auszug aus; "Meine Lebenserinnerungen" von Kommerzienrat Carl Reichstein 1929.

 

Drittes Kapitel
Das Brennabor-Fahrrad


Schon vor Beginn unserer Kinderwagenfabrikation hatten wir als Unterartikel dreirädrige Knabenvelocipede gebaut, späterhin auch zweirädrige, wie sie, aus Holz und Eisen bestehend, in den 70er Jahren häufig zu sehen waren. Als Anfang der 80er Jahre die Bicycles genannten englischen Zweiräder hier eingeführt wurden, als sich überall, auch in Brandenburg, Vereine bildeten, um Radsport zu pflegen, und als selbst mein Bruder Eduard und ich eigene Räder besaßen, entstand bei uns der Entschluß, die Fabrikation dieser Bicycles in die Hand zu nehmen. Aus diesem Grunde bauten wir auch das neue große Schmiedegebäude, um die oberen Stockwerke für die neue Fabrikation zu benutzen.
Als später noch unter den Namen Tricycles die englischen Dreiräder in Aufnahme kamen und bei älteren Herren wegen ihrer Ungefährlichkeit freudigen Anklang fanden, wurden auch diese in das Fabrikationsprogramm aufgenommen.

Vorläufig mußten wir uns auf das Zusammensetzen der einzelnen Teile beschränken, und alle Rohteile von England beziehen. Ich besuchte die Filiale der befreundeten Firma R. Nagel & Co. in Bielefeld, um dort Unterstützung und Ratschläge zu empfangen. Mit dieser Firma standen wir schon länger in Geschäftsverbindung. Sie hatte sich erboten, mich in England bei den Teillieferanten einzuführen. Der Leiter der Londoner Filiale, Fr. Nagel jun., war in jeder Weise entgegenkommend. Er fuhr mit mir nach Coventry und Birmingham, wo er überall gut bekannt war. So besuchten wir in Coventry, der berühmtesten Stadt der Cyclesfabrikation, auch den Fabrikanten der Harrington-Emaille, dem ich einen Auftrag gab. Er führte mir dann das Tauchverfahren und das Einbrennen der Emaille in seinem Gasofen vor. Mr. Harrington war der Erfinder der auch von uns verwendeten Arabfeder.
In Birmingham kaufte ich von Warrick Gabelscheiden, Rückenrohre, doppelthohle Radfelgen, bei Bown Naben und Pedale, bei Smits & Sons die notwendigen Preßteile. Wo es irgend möglich war, suchte ich in die Werkstätten zu kommen, um den Betrieb kennenzulernen. Birmingham war auch der Platz der Fabrikation anderer Zubehörteile, wie Laternen, Sättel, Glocken usw.

In Deutschland fing man bereits an, diese Teile selbst herzustellen oder die englischen Erzeugnisse durch einheimische Grossisten zu vertreiben. Was man sonst noch zur Fabrikation brauchte, wurde bereits von deutschen Stahlfirmen, z. B. von Siecke & Schultz, angeboten. Einen fachkundigen Ingenieur oder Werkführer konnte man in Deutschland nicht bekommen. Ich ließ deshalb unter der geschickten Leitung des Meisters Rackmann die englischen Modelle nachbauen, die ich in Händen hatte. Die Fabrikation der englischen Zwei- und Dreiräder blieb vorläufig in engen Grenzen, dagegen nahmen wir in größerem Maßstabe die rationelle Herstellung von Jugendrädern in der Art der englischen Zwei- und Dreiräder auf. Diese Maßnahme brachte den Vorteil, daß sich unsere Arbeiter an den geringeren Jugendrädern einarbeiten und anlernen konnten. Alle Rohteile der Jugendräder machten wir selbst, indem wir einen Fallhammer anschafften und die Herstellung von schmiedbarem Guß begannen. Die gut funktionierende Schleiferei, die Vernickelei und die Emailliererei halfen unseren Jugendrädern ein feines Aussehen zu verschaffen. Aus diesem Grunde hatten wir auch mit dem Verkauf keine Schwierigkeiten. Unsere niedlichen Räder machten uns Ehre und schafften uns einen großen Kundenkreis, so daß ich manchmal den Gedanken erwog, es bei der Fabrikation von Jugendrädern zu belassen.
Der Hochradsport wurde wegen seiner Gefährlichkeit nur von jungen Leuten betrieben, und die Dreiräder entbehrten jedes sportlichen Ansehens. Nur jungen, gewandten Leuten war es nach einiger Uebung möglich, ohne Hilfe eines Kameraden ein Hochrad von 50-56 Zoll Raddurchmesser zu besteigen. Ich habe es nie zu dieser Fertigkeit gebracht, sondern mußte mir jedesmal bei der Anfahrt die Maschine halten lassen.

Als nach einem vergnügten Radfahrerfest in Nauen am Abend zur Rückfahrt gerufen wurde, ließ ich mir mein Hochrad von einem Berliner Kameraden zum Aufstieg halten. War es nun Unvorsichtigkeit von mir oder falsches Anschieben des Starters, genug, ich stürzte beim Antreten vornüber und schlug mir am rechten Auge eine tiefe Wunde, deren Narbe noch heute zu sehen ist. Ich wurde zum Nauener Arzt Dr. Michels geführt, der mir auch in geschickter Weise die Wund zunähte. Zum Glück war mein Schwager Gustav Schmidtsdorf bei mir, mit dem ich dann über Berlin nach Hause fuhr, wo ich in der Nacht anlangte. Meine Frau hat mich erst am Morgen zu ihrem Schrecken mit verbundenem Kopf im Bett liegen sehen.
Seitdem habe ich kein Hochrad mehr bestiegen.

Naturgemäß ging das Streben der Konstrukteure dahin, ein Fahrzeug zu schaffen, das die Annehmlichkeiten des Radfahrens mit einem gewissen Gefühl der Sicherheit verbindet. Der Sitz der Maschine mußte niedriger gebracht werden, um sie leichter besteigen zu können und nicht die Gefahr des Sturzes zu haben. Verwendete man aber ein niedrigeres Triebrad, dann konnte man bei gleichem Treten nicht die gewünschte Schnelligkeit erreichen. Deshalb kam man auf den Gedanken der Uebersetzung. Die ersten Modelle dieser Art nannte man nach dem Zweck "Sicherheitsräder". Sie hatten eine vordere Radhöhe von 36 bis 40 Zoll und waren von der Radachse durch zwei seitliche Ketten mit dem 6 Zoll tiefer liegenden Tretlager bei entsprechender Uebersetzung verbunden.
Ich kaufte mir sofort eine solche englische Maschine, die man "Känguruh" nannte, für 400 Mark und benutzte sie bei unseren Klubfahrten. Dieses niedrige Rad fand jedoch den Beifall der Hochradfahrer nicht; sie blickten verächtlich auf diese kleine Mißgeburt herab.
Etwas später erschienen die neuen Fahrzeuge nach Art der heutigen Zweiräder. Sie gingen unter dem Namen "Rover". Ich glaube, so hieß der Konstrukteur. Die neue Erfindung beruhte auf der Erkenntnis, daß die Kraft-, d.h. die Kettenübertragung auf das Hinterrad richtiger ist als - wie beim Känguruh - auf das Vorderrad. Wir ließen uns zur Ansicht und Prüfung einige neue Rover kommen, doch entsprach ihre Brauchbarkeit nicht ganz unseren Wünschen. Die Gummis auf den Doppelhohlstahlfelgen waren nur 3/4 Zoll stark, zudem waren diese neuen Modelle noch nicht so ausbalanciert wie die heutigen Maschinen, weshalb es schwer war, mit ihnen gerade Linien zu fahren. Die Klubkameraden beklagten sich über mein Zickzackfahren, weil es ihre Maschinen gefährde.

Aber bald folgte eine Verbesserung schnell der anderen. Man erkannte, daß dünne Gummireifen für diese Niederräder unpraktisch seien und schuf deshalb die 1 1/4 Zoll dicken, hohlen Kissenreifen. Wieder ein Jahr später waren die Pneumatikreifen erfunden und als epochemachende Neuheit erkannt. Schon nach Erscheinen der ersten Rover genannten Niederräder Ende der 80er Jahre war es uns klar geworden, daß der Bann gebrochen und das Fahrrad bei weiterer Vervollkommnung geeignet sei, weite Volkskreise, Männlein und Weiblein, dem Radsport zuzuführen.
Nach dieser Erkenntnis gingen wir energisch ans Werk.

Die Fabrikation der Jugendräder wurde zurückgestellt, weil sie doch nicht erfüllten, was man sich von ihnen versprochen hatte. Die kleinen hübschen Dreiräder "Jugendlust" wurden in der Herstellung teurer, als wir veranschlagt hatten, so daß wir nichts verdienen konnten. Mit dem Verschwinden der Hochräder für Erwachsene wurden auch Knabenhochräder wenig verlangt, und wir wandten uns nun ganz der Fabrikation von Rädern für Erwachsene zu. Inzwischen hatten auch andere deutsche Firmen, speziell der Nähmaschinenbranche, sich mit der Einführung des Fahrradbaues befaßt, an ihrer Spitze die Firmen Seidel & Naumann und Dürkopp & Co. Herr Kommerzienrat Naumann veranlaßte alle Firmen, die sich bisher im Inlande mit dem Bau von Fahrrädern, deren Rohteile oder sonstigem Zubehör beschäftigt hatten, zusammenzutreten, um in einer nationalen Ausstellung zu zeigen, wie weit diese Fabrikation in Deutschland vorgeschritten sei. Diese Ausstellung fand im Frühjahr 1892 im Krystallpalast in Leipzig statt. Auch wir hatten ausgestellt und fanden Beifall. Eine photographische Aufnahme unseres Standes ist in meinem Besitz.

In England und auch schon in Deutschland war es üblich, daß jedes Fabrikat neben der Firma des Fabrikanten noch einen eigenen Namen erhielt. Ich wählte als Ursprungsbezeichnng das Wort "Brennabor". In Leipzig wurde der Verein deutscher Fahrradfabrikanten gegründet, dem wir sofort als Mitglied beitraten. Herr Kommerzienrat Naumann wurde zum Ersten Vorsitzenden gewählt. Jetzt begann für mich eine schwere Zeit. Die Modelle lagen noch nicht fest, weil jeder Tag etwas Neues brachte. In Deutschland gab es noch keine erprobten Fabriken, die Spezialartikel für den Fahrradbau herstellen. Um nicht ganz von England abhängig zu sein, suchte ich deutsche Fabrikanten ähnlicher Artikel heranzuziehen, was sich für die Folge als sehr nützlich erwies, zunächst aber mit vielen Enttäuschungen und manchem Aerger verknüpft war.

Gegen Ende der 80er Jahre hatte ich mehrere Schmiedehämmer aufgestellt, um die benötigten Schmiedestücke, Kurbeln, Köpfe, Nocken usw. selbst herstellen zu können, weil diese Rohteile in den verschiedenen Ausmaßen nicht zu beschaffen waren. Es handelte sich um einen Hasseschen Präzisionshammer und drei Riemenfallhämmer. Von den Fallhämmern haben wir uns zwei Stück von etwa 100 kg Bargewicht selbst gebaut.
Nachdem die Fabrikation der Jugendräder aufgegeben war und wir uns fast ganz auf die Herstellung des modernen Zweirades beschränkt hatten, bei dem außer den Kurbeln, die jetzt auch billig geliefert wurden, keine Schmiedestücke nötig waren, entfernten wir die Hämmer aus der Schmiede, um Raum für andere Maschinen und Arbeiten zu gewinnen. Zu gleicher Zeit konnten wir die eigene Herstellung der hohlen gelöteten Gabelscheiben wieder aufgeben, weil wir nur eine Größe gebrauchten, die jetzt von guten Spezialfabriken billig zu beziehen war.

Für alle Arbeiten, soweit sie für die Schmiede in Betracht kamen, entwickelte Meister Arnold einen ganz besonderen Eifer. Er war stets bemüht, alle Teile selbst zu fabrizieren, die wir fertig bezogen, aber nach seiner Meinung zu teuer bezahlen mußten. Durch diese Selbstherstellung vieler Rohteile, die andere Fabriken fertig bezogen, erschwerten wir uns natürlich die Fabrikation, ohne andere Vorteile zu erreichen, was sich erst recht bemerkbar machte, als gute Spezialfabriken für alle Teile entstanden waren. Meister Rackmann leitete mit Fleiß und Verständnis die Herstellung der Fahrradrahmen, Meister Schwahn die Schleiferei und Vernickelung. Beide haben es nach meinem bewährten Rezept "Arbeitsteilung" wohl verstanden, sich die nötigen Arbeiter heranzubilden. Leider mußten sie das Anlernen häufig für andere tun; denn die hier später entstandenen Fahrradfabriken holten sich bei Bedarf die notwendigen Spezialarbeiter aus unserem Betriebe.

Mit der eigenen Fabrikation der Kugellager, Naben und Pedale hatten wir schon bei den Jugendrädern begonnen, so daß wir später für die großen Zweiräder schon gut eingerichtet waren. Ein geschickter Meister K. und die Meister Manteuffel, Juchert und Siebert leisten uns gute Dienste. Wir waren so gestellt, daß wir uns alle notwendigen Kugellager, Naben und Pedale in bester Ausführung selbst anfertigen konnten. Die Firma Schuchardt & Schütte führte aus Amerika die neusten Spezialmaschinen für den Fahrradbau ein, die wir natürlich anschafften, unter anderen auch solche zur Kettenfabrikation, mit denen wir alle Ketten selbst herstellten. Wir legten Wert darauf, sagen zu können, daß wir alle Fahrradteile selbst erzeugen.

Die Arbeitsräume wurden aufs neue zu eng. Wir entschlossen uns also 1892, das große Kontorgebäude mit Seitenflügel zu errichten. Die Bauten konnten 1893 in Benutzung genommen werden.
Das Kinderwagengeschäft entwickelte sich langsam. Es bewährte sich die Erfahrung, daß der alte Artikel leidet oder vernachlässigt wird, wenn ein neuer Fabrikationszweig hinzukommt. Die Konkurrenzfabriken gaben sich viele Mühe, uns nachzukommen. Wenn sie dies Ziel auch nicht erreicht haben, so taten sie uns doch Abbruch, was besonders fühlbar wurde, als im Mai 1893 mein Bruder Eduard infolge eines Unglücksfalles verstarb und wir nun seine Mitarbeit entbehren und seine treue Kundschaft einem anderen Herrn überlassen mußten. Infolge des Aufschwunges der Fahrradabteilung konnte ich mich nicht nach Wunsch um die Kinderwagenabteilung kümmern. Mein Bruder Hermann wurde veranlaßt, seine Reisetätigkeit einzustellen, um sich ganz dem Kontor und der Kinderwagenabteilung zu widmen. Die Reiseroute des Bruders Hermann übernahm Herr Adolf Schulze zu unserer großen Zufriedenheit, doch war es natürlich, daß der seit 15 Jahren die Kundschaft besuchende, beliebte Chef der Firma leichter große Aufträge erhielt als sein stellvertretender Nachfolger.


( Carl Reichstein )

 

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Quelle:
Meine Lebenserinnerungen von Kommerzienrat Carl Reichstein, Brandenburg (Havel) 1929.
Bildnachweis:
Sammlung des Museums Frey-Haus Stadt Brandenburg an der Havel.